"Ökologischen Themen einen besonderen Stellenwert geben"

Di, 19.12.2006
 
Im Interview mit "Cicero" spricht Bundeskanzlerin Angela Merkel über den Klimawandel, die Klimaschutzpolitik der Bundesregierung und die Zukunft der Kernenergie.


Das Interview im Wortlaut:
 
Cicero: Sie wollen die Welt im Jahr 2007 mit umweltpolitischen Initiativen überraschen. Ist die Lage wirklich so ernst? Müssen wir uns vom Klima und der Natur, wie wir sie kennen, tatsächlich verabschieden?

Bundeskanzlerin Angela Merkel: Wir sind in Deutschland derzeit noch relativ ruhig, weil wir uns durch den Klimawandel nicht direkt bedroht sehen. Es gab immer mal einen Sturm, eine Flut, einen heißen Sommer und einen warmen Herbst. Wenn man allerdings mit Wissenschaftlern oder auch Rückversicherern spricht, wird deutlich, dass die Häufigkeit solcher Ereignisse zunimmt.
 
Das Beispiel von dem schwindenden Gletscher auf der Zugspitze macht es sehr deutlich: Heute geborene Kinder werden womöglich mit 14 Jahren diese Naturerscheinung nicht mehr erleben können. Die Seenotkreuzer vor Helgoland sind heute schon doppelt so lang wie früher, weil die alten 20 Meter langen Schiffe den Wellen bei heftiger werdenden Stürmen nicht mehr Paroli bieten können. In der Uckermark, die mit großer Trockenheit zu kämpfen hat, sind die Eichen bedroht.
 
Der Klimawandel ist eine globale Entwicklung. Wir sind glücklicherweise als Land nicht so betroffen wie viele Inselstaaten, die bei steigendem Meeresspiegel versinken, oder wie Afrika mit verheerenden Dürreperioden. Angesichts dieser Szenarien will ich international Vorsorge treffen.

Cicero: 2007 wird also für Sie das grüne Jahr der Umweltpolitik.

Merkel: Zuerst einmal arbeite ich daran, dass es für Deutschland ein erfolgreiches Jahr wird. Ein Jahr, in dem sich die wirtschaftliche Belebung fortsetzt und in den Augen der Menschen als nachhaltig zeigt. Aber mein Ziel ist auch, 2007 auf dem Weg zu mehr Klimaschutz voranzukommen. Wir haben heute die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen und die Folgen des Klimawandels vor Augen.
 
Vor diesem Hintergrund werde ich den ökologischen Themen im internationalen Rahmen einen besonderen Stellenwert geben. Das Thema liegt mir seit Jahren am Herzen. Als Umweltministerin habe ich vor zehn Jahren die Berliner Klimaschutzkonferenz geleitet, die das Vorläufer-Abkommen zu Kyoto verabschiedet hat.

Cicero: Was heißt für Sie, den ökologischen Themen international besonderen Stellenwert zu geben?

Merkel: Ich möchte erreichen, dass Europa die Beschränkung der Treibhausgasemissionen weiter vorantreibt. Wir müssen in der EU ein gemeinsames Verhandlungsmandat für ein Nachfolgeabkommen zum Kyoto-Protokoll für die Zeit ab 2012 über die Begrenzung dieser Schadstoffproduktion festlegen. Wünschenswert ist, dies vor dem G-8-Gipfel in Heiligendamm zu schaffen.

Cicero: Es wird schwer werden, die USA zu überzeugen ...

Merkel: Die EU könnte dann weltweit gegenüber den wichtigsten Industrienationen ein Signal setzen – aber auch gegenüber Staaten wie Brasilien, Mexiko, China, Indien und Südafrika. Allen muss klar sein, dass jedes Land in Sachen Schadstoffreduzierung aktiv werden muss. Denn nach Auslaufen des Kyoto-Protokolls im Jahr 2012 wird man nicht mehr so vorgehen können, dass nur die klassischen Industrieländer Verpflichtungen zur Reduzierung des Kohlendioxid-Ausstoßes übernehmen. Wir werden versuchen müssen, auch die Entwicklungsländer einzubinden.

Cicero: Die werden sich querlegen. China und Indien sind schon jetzt – ohne weitreichende Verpflichtungen – nicht konstruktiv.

Merkel: Ich möchte den Gedanken ins Spiel bringen, das Wirtschaftswachstum durch bessere Technologien und mehr Effizienz stärker vom Energieverbrauch zu entkoppeln. Staaten wie China oder Indien können unter den gegenwärtigen Bedingungen ihre Emissionen wegen des immensen Wachstums nicht reduzieren. Im Gegenteil: Diese werden steigen. Es muss uns aber gelingen, überall das Bewusscsein dafür zu wecken, dass Energieverbrauch und Schadstoffausstoß trotz wirtschaftlicher Prosperität so gering wie möglich zu halten sind.

Cicero: Dass das gelingt, ist doch eine Illusion.

Merkel: Wir müssen aber daran arbeiten. Denn wir haben keine andere Wahl. Selbst wenn wir in Europa überhaupt keine Energie mehr verbrauchen würden, würde die Erderwärmung durch einen unveränderten Konsum von Ländern wie China und Indien um die von Wissenschaftlern als bedenklich erachteten, zwei Grad und mehr zunehmen und dann für Tausende Jahre so bleiben, mit unabsehbaren Folgen für die Gestalt aller Kontinente. Wir können Vorreiter sein, aber lösen können wir das Problem nicht.
 
Deshalb ist es in unserem ureigenen Interesse, auch andere zu verantwortungsbewusstem Umgang mit Energie zu bringen. Optimistisch stimmt mich, dass in Peking und Schanghai angesichts des Smogs dort drastische Maßnahmen eingeleitet und auch akzeptiert wurden. Hier sehe ich einen gewissen Bewusstseinswandel.

Cicero: Beobachten Sie den auch in den USA? Bislang haben die Amerikaner sich geweigert, das Kyoto-Protokoll zu ratifizieren.

Merkel: Natürlich müssen und werden wir mit den Amerikanern reden, dass Reduktionsverpflichtungen bei Kohlendioxid auch von ihnen zu übernehmen sind. Da ist ein dickes Brett zu bohren. Positiv ist allerdings, dass es in den USA mittlerweile eine Debatte über den Umgang mit Energie gibt, auch einen stärkeren Einsatz der "renewables", also der erneuerbaren Energien. Ich werde bei meinem Besuch Anfang Januar in den USA mit Präsident Bush über mein Programm für die EU- und die G-8-Präsidentschaft sprechen. Dabei wird das Thema Klimaschutz auf der Tagesordnung stehen.

Cicero: Kann die Verschiebung des politischen Gewichts hin zu den Demokraten zu einer konstruktiveren Haltung in der Klimapolitik beitragen? Immerhin hat der ehemalige Vizepräsident und denkbare nächste Präsidentschaftskandidat Al Gore mit seinem Film "Eine unbequeme Wahrheit" die Problematik einer breiten Öffentlichkeit nahegebracht.


Merkel: Vor einigen Jahren waren Demokraten wie Republikaner gleichermaßen wenig bis gar nicht aufgeschlossen für Klimaschutz. Als es um die Verabschiedung des Kyoto-Protokolls ging, gab es eine Resolution des amerikanischen Senats, in der sich 98 Senatoren ablehnend geäußert hatten. Senator Lieberman hat mir damals, als ich Umweltministerin war, diese Entschließung gezeigt und erklärt, die beiden, die fehlten, seien nicht etwa für Kyoto, sondern an dem Tag der Verabschiedung der Resolution einfach nicht anwesend gewesen. Mehr an parteiübergreifender Einigkeit ist eigentlich nicht zu erreichen.
 
Aber das hat sich zwischenzeitlich geändert. Katastrophen, die deutlich machen, wie stark etwa die Region um New Orleans von einem Wandel des Klimas betroffen sein kann, haben ein Umdenken in Gang gesetzt.

Cicero: Reicht das aus?

Merkel: Wir müssen zu Veränderungen kommen. Ich mache allen, die dabei der These vom Klimawandel skeptisch gegenüberstehen, immer wieder deutlich, dass es eine Fülle zusätzlicher guter Argumente dafür gibt, mit Energie und mit Ressourcen sparsam umzugehen: Wenn man sieht, wie hoch die Abhängigkeit – insbesondere der USA – von Öl und Gas ist. Wenn man sieht, wie die Nachfrage auf dem Weltmarkt steigt, aus welch instabilen Regionen die Rohstoffe kommen, wie die Zahl der Konflikte um Ressourcen steigt, gibt es noch eine andere Perspektive, aus der heraus man zu denselben Schlussfolgerungen kommen kann wie bei dem Ziel, den Klimawandel einzudämmen.
 
Darum ist mir gleich recht, ob einer aus Sorge um die Abhängigkeit von Rohstoffen oder um das Klima zu dem Ergebnis kommt, den Treibhausgas-Aussroß in seinem Land zu reduzieren. Ich stelle jedenfalls mittlerweile in den USA eine große Nachdenklichkeit fest.

Cicero: Die Briten haben Sie jedenfalls an Ihrer Seite. Der ehemalige Weltbank-Ökonom Nicolas Stern hat im Auftrag von Premier Tony Blair eine umfassende Studie erstellt und argumentiert, dass sich Wirtschaftswachstum und Klimaschutz nicht ausschließen. Ist das aber nicht auch eine fatale Beruhigung?

Merkel: Ich habe nie einen immanenten Widerspruch zwischen Ökonomie und Ökologie gesehen. Genau wie die soziale Marktwirtschaft es geschafft hat, Kapital und Arbeit zu versöhnen, so muss die Marktwirtschaft versuchen, in der ökologischen Dimension die Spannung zwischen nachhaltiger Wirtschaft und kurzfristigem ökonomischen Erfolg zu überbrücken.
 
Die ökologische Dimension muss in die soziale Marktwirtschaft einbezogen werden. Denn ich gehöre zu denen, die im Rahmen der Globalisierung nach den deutschen Wettbewerbschancen suchen. Wir müssen uns zukunftsfähige Märkte erschließen, in denen wir mit Spitzenleistungen Arbeitsplätze und Forschungsmöglichkeiten sichern — ganz im Sinne des Bundespräsidenten, dass wir um so viel besser sein müssen, wie wir teurer sind.

Cicero: Also wird uns die Rettung der Welt nichts kosten?

Merkel: Stern prophezeit für den Fall, dass wir dem Klimawandel nicht weltweit entgegentreten, werde das Wirtschaften nach den herkömmlichen Methoden um ein Vielfaches teurer. Es entstehen dann zum Beispiel erhebliche Kosten durch Überflutungen oder Stürme. Wir wissen doch, welche Schäden Naturgewalten hervorrufen können. Ich halte es für sehr viel sinnvoller, nicht zu warten, bis Geld zur Behebung von Katastrophenschäden ausgegeben werden muss, sondern das Geld zu investieren, um solche Naturkatastrophen zu verhindern. Damit müssen mehr Länder schnell beginnen und langfristig dabei bleiben.
 
Wenn wir das Phänomen in den Griff bekommen wollen, müssen andere und neue Technologien entwickelt werden. Selbst wenn solche Technologien im Anschub teurer sind, so bin ich fest davon überzeugt, dass der Mehrwert ein Vielfaches sein wird. Natürlich war es seinerzeit etwas kostspielig, Entschwefelungsanlagen in unsere Kohlekraftwerke einzubauen. Heute aber sind unsere Kraftwerksanlagen auf dem Weltmarkt sehr gefragt.

Cicero: Was bedeutet Natur Ihnen persönlich?

Merkel: Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Das hat mich geprägt. Ich kenne die Schönheit der Natur, das hat auch immer etwas Romantisierendes. Ich kenne aber auch die Angst vor Naturgewalten und habe erlebt, wie schnell der Mensch mit seinen Fähigkeiten am Ende ist. Schon als Kind habe ich immer staunend beobachtet, dass Tiere vielfach robuster ausgestattet sind, der Natur zu trotzen, als der Mensch.

Cicero: Das müssen Sie erklären.

Merkel: Ich bewunderte immer, wie Kühe fast während des ganzen Jahres draußen leben und nicht frieren oder gar krank werden. Wir sind nach ein paar Stunden Regen meistens schon am Ende und schaffen auch die nur, wenn wir die entsprechende Kleidung tragen.

Cicero: Das klingt geradezu kindlich staunend.

Merkel: Ehrfürchtig passt eigentlich besser für mein Verhältnis zur Natur. Die Notwendigkeil, die breit angelegte Biosphäre zu schützen, wird häufig unterschätzt. Ich gehöre zu denen, die nicht nur die Beherrschung der Natur im Kopf haben, sondern sich eben ein großes Stück Respe.kt vor der Natur bewahrt haben. Deshalb plädiere ich für den Erhalt möglichst vieler Arten und halte das Aussterben von täglich mehr als hundert größtenteils unerforschten Arten weltweit für in hohem Maße beängstigend.

Cicero: Man stellt sich gerade vor, dass Angela Merkel einen Eimer Kröten über die Straße trägt.

Merkel: Es sind doch viele Kleinigkeiten, mit denen man etwas für die Umwelt tun kann. Etwa beim Energiesparen: Warum müssen alle Geräte immer auf Standby stehen? Genauso wie wir gelernt haben, den Müll zu trennen, könnten wir uns doch eigentlich auch angewöhnen, die Waschmaschine komplett auszuschalten, wenn wir sie nicht benutzen. Oder nehmen Sie die Wärmeisolierung von Häusern. Viele Menschen haben hier schon große Anstrengungen unternommen. Aber man kann durchaus noch mehr tun, und der Staat leistet hier auch Unterstützung.

Cicero: Jetzt sind die Ideen der Grünen also auch in der Volkspartei CDU angekommen.

Merkel: Ich sehe das nicht als Vorrecht der Grünen. Helmut Kohl hat es immer für einen Fehler gehalten, dass einer wie Herbert Gruhl aus der CDU ausgetreten ist. Die bayerische Sraatsregierung hat schon 1970 den ersten Umweltminister überhaupt eingesetzt. Die Union hat lange erkannt, dass der Teil der Bevölkerung, dem die Bewahrung der Schöpfung sehr am Herzen liegt, damit konservativ, also bewahrend im Wortsinne, ausgerichtet ist.
 
Wenn die Union dann dieses Thema mitunter nicht mit dem erforderlichen Nachdruck verfolgt hat, so haben wir da doch viel aufgeholt. Für mich ist immer klar, als Volkspartei kann man vor weiten Teilen der Bevölkerung nicht bestehen, wenn man die Bewahrung der Schöpfung vernachlässigt.

Cicero: Da konzentrieren sich natürlich auch viele Hoffnungen auf Sie. Sie sind eine Frau, gleichzeitig sensibel für ökologische Fragen. Sie stehen eigentlich für ein schwarz-grünes Projekt in nicht allzu ferner Zukunft.

Merkel: Das ist mir eine zu verengende Sicht. So habe ich mich auch immer dagegen gewehrt, dass die Grünen besonders für die Gleichberechtigungstehen. Die CDU hat die Beteiligung von Frauen sehr früh thematisiert und mittlerweile einen Bundesvorstand, in dem 14 Beisitzerinnen und zwölf Beisitzer sind.
 
Ich würde auch davor warnen, dass Ökologie und Frau eine natürliche Symbiose bilden. Ich erinnere mich zwar noch, wie begeistert die Vertreter afrikanischer Staaten waren, als Helmut Kohl 1995 die Klimakonferenz in Berlin eröffnete und von der "Mutter Erde" sprach. Aber ich kenne auch genügend naturbewegte Männer.

Cicero: Aber das Thema hat nun einmal eine machtpolitische Komponente ...

Merkel: Die steht bei diesem Thema für mich aber nicht im Vordergrund. Ich verfolge die Klimaschutzpolitik, weil ich sie schon als Umweltministerin für zwingend erachtet habe und das heute noch immer so sehe. Ich will die Menschen, die dafür sensibilisiert sind, an die Union binden. Nicht nur, weil ich ihre Stimmen bekommen möchte, was natürlich schön wäre. Aber vor allem, weil ich davon überzeugt bin, dass die Bewahrung der Schöpfung ein zentrales Anliegen der CDU ist.

Cicero: Was halten Sie von dem in Frankreich gestarteten Versuch, einen Atomfusionsreaktor zu entwickeln?

Merkel: Ich hätte den ITER (Internationaler Thermonuklearer Experimenteller Reaktor) auch gern in Greifswald gehabt. Dass er nun in Frankreich gebaut wird und nicht in Japan, was ja auch zur Debatte stand, ist für die EU jedenfalls eine gute Entwicklung. Ich plädiere sehr dafür, die Kernfusion voranzutreiben. Deutschland soll sich daran durchaus beteiligen.

Cicero: Wir haben aber kaum noch Atomphysiker ...

Merkel: Zumindest treiben wir durch die Initiative der Bundesregierung die Sicherheitsforschung wieder voran. Meine Haltung ist bekannt: Ich halte den verfrühten Ausstieg aus der Kernenergie für die falsche Antwort. International stehen wir damit auch weitgehend isoliert da.

Cicero: Ist Ihnen die weitverbreitete Angst vor der Kernenergie nachvollziehbar oder halten Sie diese als Physikerin für völlig überzogen?

Merkel: Einige Punkte kann ich nachvollziehen, zum Beispiel ist es nicht gut, dass wir keine Endlager für die Überreste der nuklearen Energieversorgung haben. Es war keine gute Entwicklung, dass ernsthafte Bemühungen dorthin immer wieder blockiert wurden. In dieser Legislaturperiode wollen wir zumindest ein Endlager für die schwach- und mittelradioaktiven Überreste bekommen.
 
Es ist doch unverantwortlich, dass in Deutschland seit fast hundert Jahren geröntgt wird, aber es nicht gelingt, ein Endlager für die Röntgenplatten zu schaffen. Und Deutschland sollte sich durchaus auch an Forschung beteiligen, wie man die Umwandlung der nuklearen Reststoffe in Elemente mit geringerer Halbwertszeit vorantreibt, wie es die Franzosen tun.

Cicero: Wie haben Sie 1986 eigentlich den Störfall von Tschernobyl wahrgenommen?

Merkel: Aus dem Westradio natürlich. Und dann erinnere ich mich, wie sehr wir uns über Honecker erbost haben, der gesagt hat, es würde reichen, den Salat ein bisschen mehr als gewöhnlich zu waschen. Bestimmte Importe aus Polen – Pilze zum Beispiel – haben wir eine Weile nicht gekauft, weil es ja überhaupt keine Möglichkeiten für irgendwelche Testmessungen gab.

Cicero: Resultiert Ihr Eintreten für die Kernenergie aus Ihrem Beruf als Physikerin?

Merkel: Nein. Über das Studium der Naturwissenschaften können Sie wie bei allen Studien sowohl zu einer positiven wie zu einer sehr skeptischen Betrachtung der Naturwissenschaften kommen. Mir ist mittlerweile eines klar geworden: Wissenschaftliche Begründungen für oder gegen Angst gibt es nicht. Ob die Menschen bei einem Thema Sorgen oder Zutrauen haben, lässt sich wissenschaftlich allein nicht steuern. Da kommt eine andere Ebene ins Spiel. Mairehen hilft es, wenn sie die Details kennen, andere werden angesichts der Kompliziertheit vieler Vorgänge erst richtig skeptisch ...

Cicero: Was heißt das für die politische Arbeit?

Merkel: Man kann für die eigene Bewertung immer wieder die Wissenschaft zurate ziehen. Und unsere Gesellschaft muss stärker lernen, Risiken zu bewerten, ganz generell gesprochen. Das Leben mit der Chance und dem Risiko ist ein wichtiges gesellschaftliches Problem. Ich finde es in einer komplexer werdenden Welt auch wichtig, Kinder bereits frühzeitig an solche Abwägungen heranzuführen, die sie später immer wieder vornehmen müssen.

Cicero: Wie soll das aussehen?

Merkel: Im Kindergarten und in der Schule können Kinder spielerisch lernen, was Wahrscheinlichkeit und Risiko bedeuten. Nehmen Sie die morgendliche Diskussion nach Hören des Wetterberichts, ob man nun die Regenjacke mitnimmt oder nicht. Denn die Regenjacke zu schleppen, wenn die Sonne scheint, ist das Unangenehmste, was einem nach der Schule passieren kann. Aber bei 70 Prozent Regenwahrscheinlichkeit keinen Schutz zu haben und nass zu werden, wäre auch ungemütlich. Darüber zu diskutieren, dass man für Schutz höheren Aufwand betreiben und abwägen muss, ob dieser sich lohnt, halte ich für wichtig.

Cicero: Haben Sie eigentlich die Jacke öfter mitgenommen oder zu Hause gelassen?

Merkel: Ich bin meistens ohne Regenjacke losgelaufen.

Cicero: Was ist also von der risikofreudigen Angela Merkel die Botschaft für 2007?

Merkel: Durchaus mit der inneren Haltung an die Zukunft herangehen, dass neue Probleme auf uns zukommen, wir diese aber bewältigen können. Ich plädiere nicht für leichtfertigen Optimismus. Eine positive Grundhaltung ist aber wichtig.

Das Gespräch führten Martina Fietz, Markus C. Hurek und Wolfram Weimer
Quelle: Cicero

 
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